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Produktmanagement – Agil & nachhaltig (Teil 4): Konformität als Chance

Stufe 1: Von der Belastung zur Gelegenheit

In Shu, we repeat the forms and discipline ourselves so that our bodies absorb the forms that our forebears created. We remain faithful to these forms with no deviation. Next, in the stage of Ha, once we have disciplined ourselves to acquire the forms and movements, we make innovations. In this process the forms may be broken and discarded.

(Wikipedia, siehe auch Wolpers 2016)

Selbst die erste Entwicklungsstufe ist nicht die niedrigste, sondern baut auf zuvor geschaffenen Grundlagen auf. Wir haben zunächst die Spielregeln gelernt, ihren tieferen Sinn verstanden, bevor wir nun einen eigenen Stil entwickeln. Betrachten wir Regeln einmal nicht als unwillkommene Beschränkungen unseres wirtschaftlichen Handelns: sondern vielmehr als bewährtes Erfahrungswissen, um nachhaltiges Handeln sicherzustellen.

Es geht also nicht darum, Regeln einfach nur einzuhalten, Konformität nur als Selbstzweck sicherzustellen. Vielmehr können wir das Meistern der Regeln als Chance für Innovationsprozesse begreifen. Unternehmerische Nachhaltigkeit wird vielfach als zu vage Zielstellung kritisiert. Versatzstücke wie der Verzicht auf bestimmte Stoffe sind zu oft politisch oder ideologisch motiviert. Starre gesetzliche Regelungen wie vorgeschriebene Emissionsbehandlungsverfahren entspringen noch dem End-of-Pipe-Denken.

In ähnlicher Weise wäre die Einführung von Lean Management mit Widerstand und Frustration verbunden, wenn damit lediglich Geschäftsprozesse beschleunigt und die Transparenz der Unternehmensleistung erhöht werden soll. Auch dies wäre eine Konformität ohne jenen Wandel der Haltung, der agile Unternehmensführung eigentlich ausmacht: sie bliebe eine Arbeitsbelastung und ein Kostenfaktor.

Ausgehend von einer reaktiven und defensiven Haltung stellt der erste Reifegrad also bereits einen Wendepunkt dar: an die Stelle der Rechtfertigung und Auflagenerfüllung tritt eine proaktive Haltung, die nach Gelegenheiten zur Differenzierung und Innovation Ausschau hält. Zum einen sollten wir Regeln durchaus kritisch hinterfragen, ob sie tatsächlich der Nachhaltigkeit dienen; zum anderen sollten wir Kompetenzen entwickeln, die das Erfüllen der Regeln ohne kraftaufwändige Verrenkungen erlauben. Der Unternehmenszweck, kristallisiert in den Kernprodukten, inspiriert und begeistert Menschen. Randbedingungen und Spielregeln regen ihre Kreativität bei der Lösungsfindung an. Zugleich sinkt der Aufwand für die Einhaltung von Auflagen.

Herausforderung

Neue Spielregeln der Märkte und veränderte Kundeninteressen definieren die Randbedingungen einer jeden Branche: Indem sie alle Marktteilnehmer gleichermaßen betreffen, bieten sich Industrienormen und Selbstverpflichtungen der Verbände an. Wesentliche Merkmale der Herausforderung sind:

  • Starre gesetzliche Regelungen vermeiden, die andernfalls Freiheitsgrade reduzieren;
  • Mindestanforderungen und Markteintrittsbarrieren festlegen, um einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen;
  • Daten- und Informationsaustausch und Zusammenwirken an Schnittstellen (Interoperabilität) sicherstellen.

In der ersten Entwicklungsstufe haben wir die Spielregeln gelernt und gestalten sie mit.

Beispiel: Chemie hoch 3, die Nachhaltigkeitsinitiative der chemischen Industrie, legt Berichtspflichten und Konventionen fest, um den Fortschritt in der Branche zu bestimmen. Neben konformitätsorientierten Indikatoren wie die Qualitätssicherung von REACH-Dossiers kommen auch innovationsorientierte Indikatoren wie der regelmäßige Stakeholder-Austausch hinzu. Das erweiterte Controlling wird gezielt angeregt: neben absoluten Treibhausgasemissionen (Scope 1 und 2) wird auch eine relative, effizienzorientierte Kennzahl – Treibhausgasemissionen pro Produkteinheit – eingeführt. Mit anderen Initiativen fördert der VCI die digitale Transformation der Branche und insbesondere die Datenaustauschformate.

Prinzipien

Betrachten wir also den ersten Reifegrad hinsichtlich der vier Prinzipien:

  • Effektivität: Führend bei Leistung und Qualität, bleiben wir innerhalb des gegenwärtigen technologischen Rahmens.
  • Effizienz: Wir erfüllen Auflagen mit möglichst geringem Aufwand bzw. werden sie nicht maßlos übererfüllen.
  • Suffizienz: Wir bewegen uns im gesetzlichen Rahmen (Legalität) und richten unsere Strategie an entsprechenden Grenzwerten aus.
  • Konsistenz: Wir achten auf den gesellschaftlichen Konsens (Legitimität) und versuchen, Akzeptanz zu erhalten (License to operate).

Es wird deutlich, dass die erste Entwicklungsstufe noch ein verhältnismäßig ruhiges und geordnetes Marktumfeld voraussetzt. Immerhin orientieren wir uns an Übereinkünften und Spielregeln, die einigermaßen  stabil und eben nicht allzu VUCA sind. Infolgedessen ist die Effizienz – insbesondere das Erzielen des Solls mit möglichst geringem Aufwand – das dominante Kriterium.

Organisation

Demzufolge ist unser Unternehmen eher vom Typ „Siedler“, erschließt also bestehende Märkte mit hoch effizienten Vorgehensweisen. Insbesondere können wir die Einhaltung von Regeln und Normen durch Weisung und Überwachung gewährleisten. Kontrollen und Audits sind geläufige Managementinstrumente. In der integralen Theorie von Wilber (2001) und Laloux (2014) ist bereits die Entwicklungsstufe Orange (leistungsorientiert, hierarchisch) für diese Herausforderungen gut geeignet.

Um diese Aufgaben zu unterstützen, sollte unser ERP-System (Enterprise Resource Planning) folgendes leisten:

  • Transparenz der erreichten Konformität, bspw. Zertifizierungsstatus von Produktionsbereichen und Werken;
  • Bewertung von Risiken und Investitionsalternativen, bspw. unter Berücksichtigung volatiler Rohstoffpreise, variabler Diskontierung künftiger Zahlungen und ökologischer Rucksäcke (Footprints) der Lieferketten;
  • Entscheidungsunterstützung, bspw. durch Benchmarking der eigenen Ressourcenproduktivität gegenüber publizierten Industriedurchschnittswerten wie den PlasticsEurope Eco-profiles.

Sowohl die Unternehmensleistung an sich als auch Maßnahmen zu deren Verbesserung unterliegen in erster Linie einem Effizienzgebot, das sich durch Activity-based Footprinting (ABF) gut unterstützen lässt.

Kompetenzen

Stage 1 competencies:
The ability to anticipate and shape regulations.
The skill to work with other companies, including rivals, to implement creative solutions.

(Nidumolu et al. 2009)

Wichtige Kompetenzbereiche unseres Unternehmens sind:

  • Wir können Regulierungen antizipieren und mitgestalten: Dazu engagieren wir uns in der Verbandsarbeit und in der Normung. Wer frühzeitig Regelungen vorausahnt oder sogar mitgestaltet, wird durch etwaige Einschränkungen nicht überrascht, kann sie sogar zur Differenzierung gegenüber Mitbewerbern nutzen. Beispiel: Regelungen zur Umweltdeklaration von Bauprodukten im Hinblick auf nachhaltiges Bauen.
  • Wir können mit anderen Marktteilnehmern, sogar Mitbewerbern konstruktiv zusammenarbeiten: Wir erkennen gemeinsame Interessen und definieren gemeinsame Standards. Bei Investitionsentscheidungen über einen mittelfristigen Horizont von 3—5 Jahren konzentrieren wir uns auf die Umsetzung des Standes der Technik (Best Available Technology). Wenn wir Entwicklungspartnerschaften eingehen, können wir zudem Skalierungseffekte nutzen. Beispiel: Aufbau einer neuen Infrastruktur wie im Fall der Elektromobilität oder auch dem Recycling von Bauprodukten aus Kunststoff.

In diesem Reifegrad genügt ein unterstützendes bzw. reaktives Produktmanagement. Eine arbeitsteilige Organisation kann Konformität und Effizienz bei Umsetzung der Kundenanforderungen gewährleisten. Der Produktmanager kann einen wesentlichen Beitrag zum Interessenausgleich leisten, indem er zwischen Funktionsbereichen vermittelt. Die wesentliche Errungenschaft wäre, dass die Betrachtung der Effizienz auf der übergeordneten Ebene (Produktivität als Kundennutzen je Ressourcenaufwand) gelingt.

Innovationen

Stage 1 opportunities:
Using compliance to induce the company and its partners to experiment with sustainable technologies, materials, and processes.

(Nidumolu et al. 2009)

Randbedingungen und Grenzwerte begünstigen die kreative Lösungsfindung, lösen gezielte Forschung und Entwicklung aus. Oft gibt es finanzielle Anreize und andere ökonomische Instrumente, beispielweise Emissionsabgaben, Steuervorteile oder Prämien. Allerdings spielen zur Absicherung der Legitimität gefundener Lösungen Audits und Verifizierungen weiterhin eine Schlüsselrolle.

Beispiel: In der chemischen Industrie kommen zunehmend nachwachsende Rohstoffe zum Einsatz. Sie können begrenzte fossile Ressourcen wie Erdöl und Erdgas entlasten. Zum Nachweis des erneuerbaren Anteils in den chemischen Bausteinmolekülen sind unterschiedliche analytische und rechnerische Verfahren denkbar. Die Normung soll sowohl Klarheit schaffen als auch irreführende Angaben verhindern. Kunden, die entsprechende Erzeugnisse weiterverarbeiten, benötigen entsprechende Datensätze zur Berechnung ihrer eigenen Ressourcenproduktivität. Innovative Lösungen steigern also die Effizienz: der angestrebte Nutzen wird mit weniger Ressourcenaufwand erzielt.

Fazit

Schon die erste Entwicklungsstufe ist weder geringwertig noch selbstverständlich, denn sie begreift Konformität als Chance für Innovationen. Damit setzt sie allerdings ein stabiles Marktumfeld voraus und eine Organisation, die vor allem transparent, konform und effizient ist. Solange die Entwicklungsimpulse eher aus dem regulatorischen Bereich kommen, kann das Produktmanagement noch unterstützend bzw. reaktiv erfolgen. Dies ändert sich auch in der nächsten  Entwicklungsstufe noch nicht grundlegend, wie wir in der kommenden Folge sehen werden. Allerdings verlagern wir den Fokus vom eigenen Unternehmen auf die Lieferkette.

Literatur

  • EcoChain: Website https://www.ecochain.com/en/home, Zugriff am 24.02.2017
  • Laloux, F.: Reinventing Organizations. Nelson Parker, 2014.
  • Nidumolu, R.; Prahalad, C. K.; Rangaswami, M. R.: Why Sustainability is now the key driver of innovation. In: Harvard Business Review, 2009 (Reprint R0909E).
  • Wilber, K.: A Theory of Everything – An Integral Vision for Business, Politics, Science and Spirituality. Shambhala, 2001.
  • Wolpers, S.: Why Engineers Despise Agile, Quelle: https://age-of-product.com/engineers-despise-agile, 2016. Stefan Wolpers greift in seinem Blog Gedanken zu Shu-Ha-Ri von Martin Fowler (http://martinfowler.com/bliki/ShuHaRi.html) auf.
/* Original-Code Post Header Metadata
Datum: Feb 24Autor: Ivo Mersiowsky
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