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Blauer Ozean

Blauer Ozean

Produktmanagement – Agil & nachhaltig (Teil 7): Neue Geschäftsmodelle

Stufe 4: Innovation des Geschäftsmodells

In Shu, we repeat the forms and discipline ourselves so that our bodies absorb the forms that our forebears created. We remain faithful to these forms with no deviation. Next, in the stage of Ha, once we have disciplined ourselves to acquire the forms and movements, we make innovations. In this process the forms may be broken and discarded. Finally, in Ri, we completely depart from the forms, open the door to creative technique, and arrive in a place where we act in accordance with what our heart/mind desires, unhindered while not overstepping laws.

(Wikipedia, siehe auch Wolpers 2016)

Wir gelangen nun in die vierte und letzte Entwicklungsstufe. Der Sichtflug durch den Dschungel hat seinen Schrecken verloren, denn wir haben die dafür notwendigen Fähigkeiten gemeistert, neue Kernkompetenzen entwickelt. Und wir erkennen, dass die Reise hier nicht endet, sondern unser Ziel ein Tor zu neuen Welten ist. Wir verändern den Wettbewerb durch neuartige Wertschöpfung: man spricht ja derzeit gerne von disruptivem Wandel. So lassen wir den Dschungel hinter uns, … nur um uns anschließend in die Wogen eines wilden Meeres zu stürzen.

Herausforderung

Die nun anstehende Herausforderung wird metaphorisch mit der Blauen Ozean-Strategie (Blue Ocean Strategy nach Kim und Mauborgne 2014) beschrieben. Indem wir Unternehmenszweck und Kernkompetenzen als Kompass verwenden, gelangen wir in konkurrenzlose Märkte. Dabei entwickeln wir einzigartige Mehrwertangebote und erfüllen Kundenanforderungen mit innovativen Lösungen. Wir eliminieren Leistungsmerkmale ohne hinreichenden Kundennutzen und sparen somit wertvolle Ressourcen ein – denken Sie an das in der ersten Folge dieser Serie beschriebene Over-engineering. Es geht nicht nur darum, was wir tun, sondern auch darum, was wir unterlassen. Denn wir erkennen an, dass menschliche Ressourcen, zuvorderst unsere (Arbeits-) Zeit, ebenso wie natürliche Ressourcen begrenzt sind. Umso wichtiger ist es, dass unsere Arbeit Sinn stiftet: ein klarer Unternehmenszweck, der sich an menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen orientiert, und der hegende Umgang mit unseren Ressourcen sind die höchste Form der Produktivität.

Prinzipien

Betrachten wir also den vierten Reifegrad hinsichtlich der vier Prinzipien:

  • Effektivität: Indem wir mit einer einzigartigen Leistung unseren Unternehmenszweck erfüllen, erzielen wir technischen und emotionalen Nutzen für unsere Kunden ebenso wie Motivation und Zufriedenheit für unsere Mitarbeiter.
  • Effizienz: Der allergrößte Teil unseres Mehrwerts besteht in einer dematerialisierten Dienstleistung, so dass wir unser Augenmerk auf mehr Wertschöpfung statt weniger „Schadschöpfung“ richten. Gleichzeitig achten wir weiterhin auf den Aufwand an Zeit und Energie, weil selbst regenerative Ressourcen erschöpft werden können.
  • Suffizienz: Weil wir uns auf unseren Unternehmenszweck und unsere Kernkompetenzen beschränken, ist für uns Genügsamkeit ein entlastender und positiv belegter Begriff. Durch die konsistente Einbettung in unsere natürliche und gesellschaftliche Umgebung gelingt uns auch der Schutz empfindlicher Güter.
  • Konsistenz: Unser Geschäftsmodell ist eingebettet in eine ökonomische Symbiose verschiedenster Partner, deren Zusammenarbeit durch Vertrauen geprägt und damit hochleistungsfähig ist. Außerdem sind wir nicht allein auf Bezahlung angewiesen, sondern können auch Leistung mit Gegenleistung vergüten (Pay with X).

Vor allem das Prinzip der Konsistenz bestimmt nun das unternehmerische Handeln. Mehr noch als das richtige Produkt rückt das richtige Tun in den Mittelpunkt. Benötigen wir dann eigentlich noch ein agiles und nachhaltiges Produktmanagement? Man könnte zu Recht fragen, ob denn in einer digitalisierten Welt nicht ohnehin Softwareroutinen Agilität ermöglichen. Zwar können auf absehbare Zeit automatisierbare, algorithmische Aufgaben durch Computer bzw. Roboter übernommen werden, nicht aber komplexe Nicht-Routine-Aufgaben wie Führung.

Auch was die Nachhaltigkeit anbetrifft, wird sie nicht allein infolge Dematerialisierung gewährleistet. Selbst digitale Infrastrukturen haben einen materialbedingten und vor allem einen energiebedingten Fußabdruck. Die Verwendung seltener Erden und Konfliktminerale mag als Beispiel für Probleme in Bezug auf Knappheit und gesellschaftliche Akzeptanz gelten. So kommt eine Studie der Deutschen Rohstoffagentur DERA (2016) zu dem Schluss, dass bei einer Reihe von Zukunftstechnologien infolge Marktdurchdringung ein starker Anstieg der Rohstoffnachfrage bis zum Mehrfachen der bisherigen Jahresproduktionsmenge ansteht (beispielsweise Lithium für Sensoren). Infolge der Importabhängigkeit der hiesigen Wirtschaft ist dies auch mit Planungsunsicherheiten für Unternehmen verbunden, so dass Anstrengungen zur Substitution, Ressourceneffizienz und Recycling geboten sind. In ähnlicher Weise wird mehr Rechnerleistung mit erheblichem Stromhunger bei Serverfarmen und Endgeräten bezahlt: übrigens beträgt die durchschnittliche Leistungsaufnahme eines Notebookprozessors in etwa das Doppelte dessen, was das menschliche Gehirn an Energie verbraucht.

Organisation

Der integralen Theorie von Wilber (2001) und Laloux (2014) zufolge wird die Entwicklungsstufe Orange (leistungsorientiert, hierarchisch) hier überfordert sein. Selbst die Entwicklungsstufe Grün (werteorientiert, pluralistisch) bewahrt noch hierarchische Merkmale, die sich hinderlich auswirken können. Ein wesentliches Merkmal der notwendigen Organisationsentwicklung ist nämlich die Resilienz. Die Resilienz eines Unternehmens lässt sich durch vier Eigenschaften beschreiben:

  • Vorbeugung: Die Organisation hat vorsorglich eine Widerstandsfähigkeit gegenüber negativen externen Einwirkungen aufgebaut.
  • Adaption: Die Organisation passt sich veränderten Umweltbedingungen an und findet einen neuen Gleichgewichtszustand.
  • Innovation: Die Organisation nutzt Vorteile infolge sich verändernder Umweltbedingungen.
  • Kultur: Die Team- und Projektkultur ist optimistisch, lernend, fehlertolerant und gleichzeitig konfliktlösend.

Die derzeit noch sehr seltene Entwicklungsstufe Türkis (ganzheitlich, evolutionär; siehe Teal Organizations, 2017) entspricht eben diesen Prinzipien biologischer und hochentwickelter sozialer Systeme. Gerade weil diese Entwicklungsstufe momentan die Ausnahme in der Unternehmenslandschaft darstellt, stellt sich vielen Unternehmern die Frage, welche Faktoren dieser Entwicklung bislang im Weg stehen. Zumal der Wandel und insbesondere Nachhaltigkeitsinitiativen zunächst Aufwand kosten, sind in Anlehnung an Eccles et al. (2013) sowie VDI (2016) folgende Barrieren des Kulturwandels in Organisationen zu überwinden:

  • Mangel an Bewusstsein: Attraktive neue Märkte (blaue Ozeane) überhaupt zu entdecken, Kooperationspotenziale zu realisieren und tragfähige Verwertungskonzepte zu entwickeln, sind Grundvoraussetzungen.
  • Kurzfristige Anreizsysteme: Der einseitige Fokus auf Quartalsergebnisse und Profitabilität sollte erweitert werden durch eine Fortschrittsmessung in Bezug auf strategische Ziele und ganzheitliche Produktivität.
  • Mangel an Expertise: Die Transformation erfordert neue technische Kompetenzen wie Wissen und Können bezüglich neuer Technologien. Noch wichtiger aber sind die adaptiven Herausforderungen, die das Potenzial erweitern und am besten im Job zu entwickeln sind, beispielsweise ein verändertes Führungsverständnis (Digital Leadership).
  • Begrenzungen der Investitionsrechnung: Der Einbezug von Externalitäten sowie die veränderte Diskontierung künftiger Nutzen und Zahlungen können zu einer Neubewertung von Investitionsalternativen führen.
  • Druck von Investoren: Um eher langfristig orientierte Investoren für das Unternehmen zu gewinnen, ist die nachhaltige Unternehmensleistung transparent darzustellen.

Um diese Aufgaben zu unterstützen, sollte unser ERP-System (Enterprise Resource Planning) folgendes leisten:

  • Vorhalten von Information zu allen relevanten Ressourcen, bspw. Kompetenzinventare der Mitarbeiter und soziale Ressourcen wie Kundenzufriedenheit und Lieferantenvertrauen;
  • Einschätzen der Resilienz von Geschäftsmodellen, bspw. durch Datenqualitätsindikatoren und Szenarioanalysen zur Zuverlässigkeit von Annahmen;
  • Modellieren von Netzwerken und Symbiosen, bspw. zur Darstellung verteilter Wertschöpfung in Industrieplattformen.

In einem nachhaltig-agilen Unternehmen werden sehr viele Szenarioanalysen „Was wäre, wenn …?“ durchgeführt. Entscheidungsalternativen und Verhaltensweisen können dann in Beziehung zu sämtlichen benötigen Ressourcen gesetzt werden: Material, Energie oder auch Human- und Sozialressourcen wie Hightech-Know-how, die Beziehungsqualität im Team und das soziale Kapital in einer verzweigten Lieferkette.

Kompetenzen

Stage 4 competencies:
The capacity to understand what consumers want and to figure out different ways to meet those demands.
The ability to understand how partners can enhance the value of offerings.

(Nidumolu et al. 2009)

Wichtige Kompetenzbereiche unseres Unternehmens sind:

  • Wir können Kundenbedürfnisse wirklich verstehen und Lösungen dafür entwickeln: Über menschliche Kompetenzen wie Empathie hinaus bietet die Digitalisierung weitergehende Möglichkeiten: so können smarte Produkte dank Sensorik Erkenntnisse zu benachbarten Objekten, Umgebungseigenschaften und Nutzerverhalten gewinnen.
  • Wir können das Potenzial von Partnerschaften für bessere Wertschöpfung erkennen: Plattformen erleichtern durchaus die verteilte Werterstellung, indem jeder Partner sich in seinen Kernkompetenzen spezialisieren kann. Es verbleibt die Herausforderung geeigneter Schnittstellen (Interoperabilität) und die Resilienz gegenüber Ausfall und Wechsel von Partnern. Vertrauen wird somit zur Schlüsselressource, wenn die Wertschöpfung gemeinsam erfolgen soll (Co-creation).

Für diesen Reifegrad benötigen wir ein hochleistungsfähiges Produktmanagement („High Performance“), zumal wir das Produkt an sich transzendieren: gleichzeitig verbleibt oftmals ein Produktkern, der den Kernkompetenzen des Unternehmens und seiner Rolle im Wertschöpfungsnetzwerk entspricht.

Innovationen

Stage 4 opportunities:
Developing new delivery technologies that change value-chain relationships in significant ways.
Creating monetisation models that relate to services rather than products.
Devising business models that combine digital and physical infrastructures.

(Nidumolu et al. 2009)

Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen.

(VDI 2016)

Neue Geschäftsmodelle beruhen auf alternativen Lieferketten, cyberphysikalischer Infrastruktur (CPS) und alternativen Bezahlmodellen. Das materielle Produkt ist möglicherweise nur mehr ein Anker, ein Schlüssel zu digitalen Services. Demzufolge entfallen viele Probleme, die durch Bindung oder gar Verbrauch materieller Ressourcen entstünden. Doch zum einen bringt gerade die Skalierung von Netzwerken neue Herausforderungen für die physikalische Materialwirtschaft und Logistik mit sich. Und zum anderen wird der Erfolg von Innovationen mehr denn je auf dem Verwertungskonzept und nicht allein auf der F&E-Leistung beruhen.

Beispiele: Online-Shopping-Plattformen lassen Präferenzen, sowohl individuelle als auch demografische, sichtbar werden und beeinflussen sie gleichzeitig in einer komplexen Rückkopplung. Hersteller, die an diesen Plattformen teilnehmen, versetzen ihre Kunden (Prosumenten) in die Lage, ihr Wunschprodukt selbst zu gestalten. Körperscanner erfassen die menschliche Gestalt für Gesundheitsprodukte, Gebäudescanner die Objektdaten für Bauprodukte. Der Grad an Individualisierung nimmt weiter zu bis hin zur Losgröße Eins. Crowd-funding lenkt sogar die Finanzströme in populäre Projekte. Dementsprechend koppeln sich Hersteller an die Trends und die Dynamik im Netzwerk – ein komplexes System von Einflussfaktoren und Feedbackschleifen. Falls es noch einen materiellen Produktkern gibt, so geht die digitale Infrastruktur zur Konfiguration und Auftragserfassung nahtlos über in die physische Produktionsinfrastruktur. Doch selbst wenn die Skalierung über große Zahlen gleichartiger Aufträge nun fehlt, sorgen verteilte und vernetzte Kapazitäten für eine hocheffiziente Erzeugung.

Fazit

Die vierte Entwicklungsstufe lässt das klassische Produktmanagement hinter sich, indem Software und Service den zumeist größeren Bestandteil der Wertschöpfung ausmachen. Dabei kommt dem Produktmanagement indessen nicht weniger, sondern sogar größere Bedeutung zu, denn die Wertschöpfung findet in vernetzten Produktionssystemen und industriellen Ökosystemen statt. Agilität und Nachhaltigkeit bleiben wesentliche Kriterien. Übrigens sind Entwicklungsstufen und Reifegrade eben auch nur Beschreibungsversuche und Modelle: Jürgen Appelo (2016) betont, dass es vielmehr um die individuelle Beziehungsqualität und spezifische Interaktionsmuster geht. Unsere Haltungen und Verhaltensweisen bewusst wahrzunehmen und situativ zu entscheiden, ist daher der beste Beginn auf dem Entwicklungspfad zu einem agilen und nachhaltigen Produktmanagement.

Literatur

  • Appelo, J.: Why there’s no such thing as a teal organization. Blogbeitrag vom 28.06.2016, Website https://www.happymelly.com/there-are-no-teal-organizations, Zugriff am 17.03.2017.
  • Deutsche Rohstoffagentur (DERA): Rohstoffe für Zukunftstechnologien 2016. Zusammenfassung in: DERA Rohstoffinformationen Nr. 28.
  • Eccles, R. G.; Serafeim, G.: The performance frontier – Innovating for a sustainable strategy. Harvard Business Review, 2013 (Reprint R1305B).
  • Kim, W. C.; Mauborgne, R.: Blue Ocean Strategy. Harvard Business Press, 2009.
  • Institute for Corporate Productivity (i4cp): Building a Change-Ready Organization – Critical Human Capital Issues, 2013.
  • Laloux, F.: Reinventing Organizations. Nelson Parker, 2014.
  • Nidumolu, R.; Prahalad, C. K.; Rangaswami, M. R.: Why Sustainability is now the key driver of innovation. In: Harvard Business Review, 2009 (Reprint R0909E).
  • Teal Organizations: Website http://www.reinventingorganizationswiki.com/Teal_Organizations, Zugriff am 17.03.2017.
  • VDI: Statusreport Digitale Chancen und Bedrohungen – Geschäftsmodelle für Industrie 4.0. Düsseldorf, Mai 2016.
  • Wilber, K.: A Theory of Everything – An Integral Vision for Business, Politics, Science and Spirituality. Shambhala, 2001.
  • Wolpers, S.: Why Engineers Despise Agile, Quelle: https://age-of-product.com/engineers-despise-agile, 2016. Stefan Wolpers greift in seinem Blog Gedanken zu Shu-Ha-Ri von Martin Fowler (http://martinfowler.com/bliki/ShuHaRi.html) auf.
/* Original-Code Post Header Metadata
Datum: Mrz 17Autor: Ivo Mersiowsky
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